Kerb

Die Semder Kerb in alter Zeit

Aus dem Odenwälder Bote vom 05.09.1986 - Text: Peter Füßler
Die Semder wussten schon immer, wie man Kerb feiert. Weit und breit ist ihre Gastfreundschaft und Geselligkeit bekannt. Im Umstädter Land war die Semder Kerb schon immer etwas Besonderes. Das war auch vor Jahrhunderten schon so. Allerdings feierten die Semder damals ihre Kerb nicht im September, sondern am oder um den Sankt Jacobstag (25. Juli). Es war im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert Tradition, daß die Umstädter herrschaftlichen Beamten, vor allem also die hessischen und kurpfälzischen Amtsverweser, mit ihren Ehegatten und Angehörigen am Sankt Jacobstag eigens nach Semd kamen, um dort die Kerb zu feiern. Stephan Helffrich, Tobias Schreiber, Rhumbelius und Schulthesius – bekannte Namen der Umstädter Stadtgeschichte – hatten sich in Semd ,,umb ihr Geld lustig gemacht". In die fröhlichen und unbeschwerten Feiertage fiel allerdings in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts ein Wermutstropfen. Seit Menschengedenken war es Sitte, dass die Grafen von Löwenstein-Wertheim, die das Amt Habitzheim als Lehen der Kurfürsten von der Pfalz innehatten, berechtigt waren, den sogenannten Bannwein am ersten Kirchweihtag zu zapfen. Dies bedeutete, daß nur der Graf, und nicht etwa die Semder Wirte, das Recht hatte, Wein auszuschenken. Jedes Jahr machte sich daher der gräflich löwensteinische Keller mit seinen Gehilfen am ersten Kirchweihtag in aller Frühe von Habitzheim auf den Weg nach Semd. In ihrer Begleitung waren Habitzheimer Junggesellen im heiratsfähigen Alter, die nach altem Brauch das Recht des „Vortanzes“ hatten. Nur sie allein durften am ersten Tag mit den Semder Mädchen das Tanzbein schwingen. Sie zogen mit ihren eigenen Spielleuten in Semd mit Sang und Klang ein. An der Bach stellten sie den Karren mit dem Bannwein auf. Jeder Semder Haushalt mußte mindestens ein Maß abnehmen. Der Brauch schrieb vor, daß der Bannweinkarren beim Ausschank mit einem Rad im Wasser, mit dem anderen Rad auf dem Land stand. Dann konnte das Fest beginnen, wobei am ersten Tag der Graf auch das Recht hatte „Spiele mit Kugeln“ (das war wohl Kegeln) und „Bipappen“ (ein Würfelspiel) abzuhalten und Standgelder („Zölle“") von Verkäufern zu kassieren. Das alles war für die Semder zwar nicht besonders vorteilhaft, scheint aber ganz gut gegangen zu sein bis 1668 der hessische Keller Chelius sein Amt antrat. Da Hessen und Kurpfalz nach einem Vertrag aus dem Jahr 1521 in der Umstädter Zent, zu der das Amt Habitzheim gehörte, zu je 1/2 berechtigt waren, bestritt er die pfälzisch-löwensteinische Berechtigung der Bannweinzapfung, die ihm ein Dorn im Auge war. Er war auch nicht besonders beeindruckt, als ihm ein Eintrag im Habitzheimer Lagerbuch von 1539 entgegengehalten wurde, der die löwensteinischen Rechte belegte. Es muß ihm in den folgenden Jahren gelungen sein, seine Herrschaft davon zu überzeugen, daß dagegen etwas unternommen werden müßte.

Im Jahr 1675 war es soweit: der Landgraf von Hessen/Darmstadt ließ von Reinheim aus Reiter abkommandieren, die sich in der Nacht zum 25. Juli bei Semd „im Korn oder Gesträuch“ verstecken und den Bannweinkarren entführen sollten. Daraus wurde aber nichts, weil das Vorhaben dem löwensteinischen Keller Müßig verraten wurde, der darauf mit einem Eilbrief eine Otzberger Mannschaft anforderte, die sich bei Semd „ebenfalls im Korn“ postierte. Unter ihrem Schutz konnte der Bannwein alsdann ausgeschenkt werden. Verärgert revanchierten sich wenige Tage später sechs hessische Reiter und „pfändeten“ zwei Pferde des Kellers Müßig, als er gerade friedlich seinen Acker zackerte. Dieser Rechtsbruch sollte sich später – mit umgekehrtem Vorzeichen – wiederholen und einigen Wirbel bis in die Landeshauptstädte entfachen. Doch davon später.

Kurpfalz war jedenfalls die Sache leid. Der Kurfürst Carl Ludwig erklärte als Lehnsherr (mit Zustimmung der verwitweten Gräfin von Löwenstein-Wertheim), daß sein Keller Paulus Crustarius die Sache nunmehr selbst in die Hand nehmen und die Rechte durchsetzen sollte. Dies klappte auch. Zwar versuchte der neue hessische Keller Buchner den Semdern zu verbieten, Wein bei den Pfälzern zu holen. Er hatte damit aber keinen Erfolg.

1679 ließ Buchner sich etwas Neues einfallen: als Crustarius am Morgen des ersten Kerbtags in Semd mit seinem Karren ankam, stand Buchner bereits mit seinem Faß an der Bach und bot den Wein an. Als tatsächlich „ein getauffter Jud aus Reinheim“ gegen den Brauch sich von Buchner Wein geben ließ, schlug ihm Crustarius das Glas entzwei. Otzberger Soldaten, die eilends herbeigerufen worden waren, schafften „das fäßlein des Buchner ins feldt“ und bewachten den pfälzischen Verkauf. Diese Niederlage ließ Buchner nicht ruhen. Als 1680 Crustarius bereits um 4 Uhr am Morgen in Semd mit seinem Karren ankam, erwarteten ihn dreißig hessische Soldaten „mit brennender Lunte bey dem Rathaus“. Crustarius wich der Gewalt. Er gehörte allerdings nicht zu denen, die gleich aufgaben. Er befahl, vom Otzberg Soldaten nach Semd zu schicken. Außerdem beorderte er dorthin „die jungen Leute von Habitzheim dem Herkommen gemäß zur Haltung des Tantzes und Abholung des Bannweins“.

Zu einer Konfrontation kam es aber nicht, weil die Darmstädter Soldaten zwischenzeitlich „wegen überflüssigen truncks“ ganz andere Ideen hatten als sich mit den Otzbergern Gefechte zu liefern. Wie Crustarius hämisch berichtete, „tantzten sie vor dem Rathauß wie rasend ohne Weibspersohnen“, weil er in aller Eile von Dieburg her Spielleute organisiert hatte, die zum Tanz aufspielten, „so daß weibsvolck nicht zu den Darmstättern kommen mochte“.

Nun geriet Crustarius in Hochstimmung. Weinselig verkündete er in seiner Freude über seinen Erfolg, heute könne jeder („ohne praejudiz“) seinen Wein kaufen, wo er wolle. Das sollte ihm allerdings bitter aufstoßen. Als die Pfälzer Räte davon erfuhren, bestraften sie ihn mit einem scharfen Verweis und entzogen ihm sein Gehalt für ein Quartal. Der Keller überlegte, wie er das wieder gutmachen könne. Er sollte Gelegenheit dazu erhalten. Im Jahr 1683 gerieten die Semder und Habitzheimer ernsthaft aneinander. Anlaß war wohl der oben erwähnte „Vortanz“ der Habitzheimer jungen Burschen. Die Einzelheiten sind im Streit. Jedenfalls beklagten sich die Habitzheimer über „die von den Semdern angefangene mörderische schlägerey, bei der Hanß Georg Zimmermann fast auf den Tod geschlagen, sein Bruder Jacob mit dem Dorfspieß gefährlich durchs Bein gestochen worden, so dass beide den barbier oder feldscher brauchen werden“. Der daraufhin alarmierte Semder Schultheiß Hanß Peter Menges weigerte sich, etwas zu unternehmen, weil der beschuldigte Andreas Georg kein „Zäncker“ sei. Ihm sei im Gegenteil der Dorfspieß „entrissen und gefährlich auf den Kopf geschlagen worden“. Die Habitzheimer sahen dies jedenfalls anders. Sie erinnerten sich an die vor einigen Jahren „gepfändeten“ Pferde ihres Kellers Müßig. Zwei Wochen später tauchten vier kräftige Habitzheimer in der Semder Gemarkung auf, als der Sohn des zwischenzeitlich verstorbenen Schultheiß auf den „Stangenäckern“ zackerte und entwendeten zwei Pferde, die sie als „Pfandstücke“ nach Habitzheim brachten. Begründet wurde die Aktion reichlich fadenscheinig: Menges habe den Habitzheimer Bettag (12. August) mit seiner Feldarbeit mißachtet. Der Überfall hatte einen bis in die Kanzleien von Heidelberg und Darmstadt reichenden juristischen Streit zur Folge, auf den wir nicht näher eingehen wollen, auch wenn wir aus ihm manches über die damals aktuellen Streitfragen in der Umstädter Zent erfahren können.

Über alle Querelen und Spitzfindigkeiten hinweg versuchte die Witwe Eva Maria Mengeßin, „Hannß Menges hinterlassene Ehefrau mit noch elf lebendigen, theils noch unerzogenen Kindern“, in einem Bittschreiben an den Kurfürsten von der Pfalz, ihre Pferde, die für sie lebenswichtig waren, wieder zu erlangen. Der pfälzische Oberamtmann Carl Wilhelm von Curti schaltete sich persönlich ein und vereinbarte – über alle Einwendungen von Crustarius hinweg – kurzerhand mit dem hessischen Keller Buchner, daß Frau Menges ihre Pferde wieder abholen könne. Doch jetzt schlug zum Unglück der Witwe der Stunde des Kellers Crustarius: er schwärzte den Oberamtmann beim Kurfürsten an, er habe eine verschwiegene Abrede mit Buchner getroffen und dadurch pfälzische Interessen verletzt; von Curti handelte sich durch sein großherziges und verständnisvolles Verhalten einen „scharfen Verweis“ des Kurfürsten ein, der ein Gutachten seiner Räte zu der verworrenen Rechtslage eingeholt hatte.

Als die Bittschrift nichts geholfen, sondern dem hifsbereiten Oberamtmann nur geschadet hatte, schickte Frau Menges zwei ihrer Söhne am 22. September 1683 nach Habitzheim. Sie sollten nachschauen, wie es den Pferden ging. Dies taten sie auch. In der Nacht darauf waren die Tiere plötzlich verschwunden. Am Morgen standen sie vor dem Anwesen der Schultheissenwitwe. Alles Jammern des Kellers Müßig, der 20 fl. Futtergeld oder eine erneute „Pfändung“ der Tiere verlangte, half nichts. Natürlich beschuldigte man die Mengessöhne, die Pferde in Habitzheim entwendet zu haben. Beweise fehlten aber. Die Sache verlief im Sande. Die Parteien waren zu müde, um weiterzustreiten.

Im nächsten Jahr 1684 schrieb der neue pfälzische Keller Naurath nach Heidelberg einen ironischen Bericht über die Zapfung des Bannweins. Der hessische Förster habe in Semd, „eine kleine protestatio“ gehalten, worauf der pfälzische geantwortet habe, „er solle das Maul halten, ansonsten er nichts zu trinken bekomme“. Da habe der andere gesagt: „Ei Narr, ich trinke mit dir, wenn ich nur dürfte“. Die pfälzischen Räte fanden das mit weiteren ironischen Bemerkungen gespickte Schreiben „unförmlich, unteutsch und fast gegen den respect“. Aus ihrer Sicht mögen sie recht gehabt haben. Die Semder und alle Kerbbesucher werden aber sicherlich froh gewesen sein, daß sie fortan, wenn nicht alle Anzeichen trügen, in Frieden ihre Kerb feiern und ihren Kerbwein, von wem auch immer ausgeschenkt, trinken konnten.