Der nachfolgende Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung des Darmstädter-Echo veröffentlicht.

Ein deutscher Robin Hood?

Der Schinderhannes-Mythos lebt –

Vor 200 Jahren war Deutschlands wohl
populärster Räuber auch in Hessen gefürchtet

VON PETER BAYERLEIN
An einem „neblicht nassen“ Herbsttag vor 200 Jahren starb Johannes Bückler vor den Wällen von Mainz. Einige tausend Menschen waren Zeuge, als er am 21. November 1803 unter das Fallbeil geschoben wurde. Er war weder der erste, der von der französischen Justiz in den gerade erst eroberten rheinischen Départements hingerichtet wurde, noch war er in den zehn Jahren dieser Herrschaft der letzte – aber der „Schinderhannes“ war zweifellos der bekannteste.
Zumindest drängt sich dieser Eindruck auf, wenn man durch den Hunsrück fährt: In fast jedem Dorf stößt man auf eine Schinderhannes-Schenke, ein Schinderhannes-Hotel. Man kann Schinderhannes-Spießbraten auf Schinderhannes-Brot speisen, Schinderhannes-Bier trinken, mit Schinderhannes-Schnaps nachspülen, Schinderhannes-Tabak rauchen. Man kann sich auf Schinderhannes-Loipen und -Rundwegen tummeln, den Schinderhannes- Radweg befahren oder an einer Schinderhannes-Rallye teilnehmen.


(Fröhliches Räuberleben
und unrühmliches Ende)

Stilisiert zum Widerständler gegen das Franzosen-Regime
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es Versuche, den Schinderhannes zu einer Art Freiheitskämpfer gegen die französische Besatzungsmacht zu stilisieren. Dies geschah zwar vornehmlich in Romanen, wo man es mit Fakten nicht so genau nehmen muss – aber dieses Bild, das nach dem 1. Weltkrieg und der erneuten Besetzung des Rheinlands durch französische Truppen viele Herzen entflammte, wurde bald auf Bückler übertragen. Dabei ist keine Tat des Schinderhannes bekannt, die sich gegen die französische Besatzungsmacht gerichtet hätte.

Wie alle anderen Räuber machte auch er einen großen Bogen um Dörfer, in denen französische Soldaten vermutet wurden – schon weil diese kurzen Prozess machten mit francs-tireurs (Freischärlern) und auch mit Dörfern, in denen man solche wähnte. Räuber wollten Beute machen, nicht kämpfen. Trotzdem taucht das idealisierte Bild des Rebellen auch in der Schinderhannes-Biographie von Curt Elwenspoek auf und regte wohl auch das Theaterstück von Carl Zuckmayer an. Populäre Vorstellungen vom Schinderhannes sind geprägt von romantisch verklärenden Romanen, Bühnenstücken und Filmen.

Curd Jürgens spielt den Räuber zum Volkshelden empor
Der Schinderhannes-Film von 1928 nach dem Drehbuch von Zuckmayer wurde im damals besetzten Rheinland verboten, sorgte für diplomatische Verstimmungen zwischen Paris und Berlin und durfte erst nach Änderungen gezeigt werden. Nach dem 2. Weltkrieg wurde auch am „rheinischen Helden“ vieles abgeschwächt, und so verwundert nicht, dass der Räuber auf manchen Zeichnungen aussieht wie Curd Jürgens in dem Schinderhannes- Film von 1958, in dem Bückler zur Mischung aus Till Eulenspiegel und Andreas Hofer mutierte. Erst mit diesem Film überflügelte der rheinische Bandit an Popularität den norddeutschen Piraten Klas Störtebeker (zu dessen Andenken heute auf Rügen Störtebeker- Festspiele inszeniert werden), und den Wildschützen Mathias Klostermayer, den „bayerischen Hiasl“, dessen Bande 1771 erst von zwei Kompanien Soldaten in mehrstündigem Gefecht überwältigt wurde, und den „Sonnenwirtle“ Friedrich Schwahn, dem Friedrich Schiller mit der Novelle „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ ein literarisches Denkmal setzte. Der deftig fröhliche Schinderhannes des Curd Jürgens machte den Kriminellen zum „Freizeiträuber“, mit dessen Namen sich Pfadfindergruppen schmücken.
Bückler wurde 1778 in Miehlen im Hintertaunus als Sohn eines „Wasenmeisters“ geboren. Diesem Handwerk des Schinders oder Abdeckers (der Tiere „aus der Decke“ schlug, also abhäutete und den unverwertbaren Tierkadaver entsorgte) haftete im doppelten Sinne ein übler Ruch an: Sie mussten außerhalb der Dörfer leben, galten als „ehrlos“, ihre Nachkommen durften kein „ehrbares Handwerk“ betreiben. Johannes, dem Sohn des Schinders, blieb wenig übrig, als auch den Beruf des Vaters zu ergreifen. Den Lohn versuchte er mit Viehdiebstählen aufzubessern, er wurde ertappt, verhaftet und entkam – schon mit 16 Jahren ein steckbrieflich gesuchter Krimineller. 1802 versuchte er vergebens, als „fahrender Händler Ofenloch“ und dann als kaiserlicher Soldat wieder in die bürgerliche Gesellschaft zurückzukehren. Er wurde verraten, in Frankfurt verhaftet und an die Franzosen ausgeliefert.
Es scheint falsch, den Schinderhannes- Mythos mit der Faszination des Bösen erklären zu wollen. Die meisten Verbrecher, die Schlagzeilen machen, sind bald wieder vergessen, nur an wenige erinnert man sich noch nach Jahrzehnten. Deshalb ist das anhaltende Interesse an Bückler auch nach 200 Jahren erstaunlich. Es war schon in den Flugblättern und Zeitungsberichten spürbar, die vor Beginn des Strafprozesses in Mainz 1803 veröffentlicht wurden – wobei sich diese Schriften meist wenig um die tatsächlichen Geschehnisse im abgelegenen Hunsrück kümmerten. Der aufwändige Strafprozess, für den jeden Tag Eintrittskarten verkauft wurden, die 68 Angeklagten, die fast unüberschaubare Anzahl von Zeugen, die Hinrichtung steigerten die Faszination an dem Hunsrück- Räuber.
Zweifellos verdankt Bückler einen Teil seiner Berühmtheit der ausgeprägten Fähigkeit zur Selbstdarstellung. Auch der von ihm bevorzugte Name „Johannes durch den Wald“, wie er Erpresserbriefe unterschrieb, strahlt geheimnisvolles Flair aus. Er sei charmant und humorvoll gewesen, wird berichtet, habe sich Gesprächspartnern anzupassen vermocht – was nicht nur junge Frauen anziehend fanden. Während der Verhandlung in Mainz wusste er viele Zuschauer für sich einzunehmen. Er war meist recht sorgfältig und „adrett“ nach der neuesten Mode gekleidet und hob sich schon dadurch deutlich von vielen seiner Komplizen ab. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn ließ er sich mehrmals von Schneidern komplett neu ausstatten – während sich damals die meisten Menschen bestenfalls einmal im Jahr ein neues Kleidungsstück leisteten.


Zur Biedermeier-Idylle idealisierte der
Mannheimer Maler Karl Mathias Ernst den Räuber
Johannes Bückler in Handschellen mit seiner
Geliebten Julie Bläsius (1781-1851)
Ihr Sohn Franz Wilhelm (*1802) wurde von dem
Mainzer Zolleinnehmer Johannes Weiß adoptiert.

Bückler versuchte, sich als Freund der Armen darzustellen
Zum Erstaunen der Amtspersonen und des Publikums wirkte er während des Prozesses nicht „bäuerisch“, sondern offen und gewandt. Er legte Wert darauf, nicht als gewöhnlicher Dieb angesehen zu werden. Immer wieder betonte er, er habe nie Gewalt ausgeübt, habe immer versucht, das Schlimmste zu verhüten. Ein paar Mal behauptete er, er habe Überfallenen ihre Habe gelassen, sobald er merkte, dass sie nicht viel besaßen. Auf diese freilich von vielen Anekdotenschreibern aufgegriffenen Aussagen gründet sein Ruhm als „Robin Hood von der Nahe“, protokollierte Opferaussagen stellen ihn nicht so freundlich dar. Bei Beschreibung seiner Taten bemühte sich Bückler stets, sich als pfiffig oder schlau darzustellen. Oft zitiert wird seine Behauptung, er sei nach dem Einbruch in eine Gerberei in Meisenheim anderntags zurückgekehrt und habe dem Gerber das Leder verkauft, das er ihm gestohlen hatte (eine Geschichte, die auch Zuckmayer aufgriff, wobei er den Gerber als unsympathischen Geizhals darstellte).
Mit Vergnügen erzählte Bückler auch, er habe bei einem Raubüberfall einem eingeschüchterten Reisenden sein Gewehr gegeben, damit er es halte, während er die übrigen durchsuchte. Allerdings schränkte er die Kühnheit dieser Aktion wieder ein, indem er erzählte, das Gewehr habe eine geheime Sicherungseinrichtung besessen (wobei Sicherungen an Feuerwaffen dieser Zeit extrem selten sind). Jedenfalls belegt auch diese Episode Bücklers Bestreben, für clever gehalten zu werden. Mit Vergnügen berichtete er vor dem Untersuchungsrichter auch über einen Raubüberfall, der seiner Meinung nach „mehr komisch als ernsthaft“ war. Dabei hatte er eine Gruppe jüdischer Händler gezwungen, die Schuhe auszuziehen, um diese nach versteckten Wertgegenständen zu untersuchen. Dann warf er sie alle auf einen Haufen, um sich daran zu ergötzen, wie sich die Opfer um die besten Schuhe balgten. Schon kurz nach Bücklers Hinrichtung entstand im Hunsrück die Mär vom Schelm, der letztendlich ein „guter Kerl“ war, der „Humor besaß, [und] ... echte Fröhlichkeit des Herzens“.
An der Fabel vom Räuber, der Reiche und Geizige bestiehlt und Arme beschenkt, erfreuten sich Menschen zu allen Zeiten. Der Held wurde so ausgemalt, wie ihn das Volk sich so wünschte: forsch und unverfroren gegenüber der Obrigkeit, freundlich und hilfsbereit gegenüber einfachen Leuten (wenn auch vorzugsweise bei jungen Mädchen). Geschichten vom „edlen Räuber“, der Arme beschenkte, tauchten zwar schon unmittelbar nach der Verhaftung des Schinderhannes auf – ohne dass bisher jemand deren Wahrheitsgehalt belegt hätte. Sicherlich hatten die Räuber wenig zu verschenken: Geld zerrann so schnell unter den Fingern, wie es geraubt worden war. Die Beute ging meist in viele Teile: Hehler und Helfershelfer wollten ihren Anteil, auch korrupte Beamte, Wirte und Fährleute für ihr Schweigen. Der Branntwein war teuer, und die Mädchen wollten versorgt werden.
Angesichts der zahlreichen Verbrechen Bücklers muss man feststellen, dass er wenig von einem „Robin Hood des Hunsrück“ hat. In Wahrheit ging es den Straßenräubern nur darum, an Geld oder Wertsachen zu gelangen. Sie zögerten meist keinen Augenblick, zu diesem Zweck Gewalt einzusetzen. Sie prügelten mit Knüppeln oder Waffen auf Überfallene ein, folterten mitunter, indem sie Gefangenen Kerzen unter die Fußsohlen hielten, damit diese Geldverstecke verrieten. Manche erlitten dabei schwere Verletzungen, erholten sich nie mehr. Ob Bückler weniger gewalttätig war als seine Komplizen, wie wohlwollende Biographen behaupten, kann weder schlüssig bestätigt noch verneint werden. Nach eigenen Aussagen – so bereits am ersten Tag seiner Vernehmung am 19. Juni 1802 – und den Berichten anderer war er zumindest in viele Schlägereien mit Kameraden verwickelt, bei denen oft Blut floss, auch zahlreiche Freundschaften zerbrachen.

Der populäre Gangster war offenbar kein Judenfeind
In einigen frühen Flugblättern und Trivialromanen war nach der Verhaftung des Räuberhauptmanns unter anderem zu lesen, des Schinderhannes „Haß und seine Rache habe sich nur auf die Juden bestrekt“. Diese Behauptung wurde nach dem Ersten Weltkrieg in völlig anderem Kontext wieder aufgegriffen. Auch hier besteht zwischen Schinderhannes- Mythen und historischen Fakten beträchtliche Diskrepanz. Es ist belegt, dass Bückler zwar tatsächlich eine Reihe jüdischer Händler überfallen hat – die überwiegende Mehrzahl seiner Opfer aber waren Christen. Der Schinderhannes scherte sich wohl wenig um die Religion seiner Opfer, es ging ihm vor allem darum, dass deren Geldkatze wohlgefüllt war. Belegt ist, dass er immer wieder mit jüdischen Komplizen und jüdischen Hehlern kooperierte, auch scheint eine seiner Geliebten Jüdin gewesen zu sein. Während einer Vernehmung gab er an, „er kenne viele Juden auf dem rechten Rheinufer“, was alles gegen die ihm nachgesagte Judenfeindschaft spricht. Christliche Pfarrhäuser waren dagegen vor dem Regime der Französischen Republik im Hunsrück häufig Ziel von Raubüberfällen – die Enteignung der Kirche und Vertreibung der Priester beendete dies. Auf dem rechten Rheinufer dagegen wurden auch 1801/02 noch immer Pfarrhäuser überfallen, so auch das Pfarrhaus in Münster bei Dieburg, das Komplizen des Schinderhannes überfallen haben sollen. Auch ein missglückter Überfall auf die „Krone“ in Semd wird „dem Schinderhannes“ zugeschrieben. Die netten Anekdoten, wie der Schinderhannes Vertreter der Obrigkeit ärgerte, mit Wucherern und Geizhälsen Schabernack trieb, ohne dass Blut floss, sind zum großen Teil nicht nachprüfbar. Ein Teil kam wohl aus Berichten über andere Räuber hinzu, die auf den Schinderhannes übertragen wurden.