Aus der Geschichte von Semd

Unser Dorf liegt an den letzten Ausläufern des Odenwaldes nach der Mainebene zu. Im südlichen Teil der Gemarkung finden wir vorzugsweise Lehm- und Lösboden, während im nördlichen schon mehr der Sandboden zur Geltung kommt. Zwischen zwei Hügelzügen fließt der Bach, der bei Hummetroth entspringt und dem Dorf wohl seinen Namen verdankt, die Semme. In den ältesten Urkunden wird es Semminaha genannt. Der Name hängt mit Sumpf und Binsen zusammen, die beide bei der tiefen Lage häufig vorkommen. Später tritt der Name Sempt, Sembdt, Sembd, Semb und endlich die jetzige Schreibweise auf.

Wann die Gründung erfolgte, lässt sich nicht mehr feststellen, doch war auch unsere Gegend sicher schon früh besiedelt, da sich hier, wie auch im benachbarten Groß-Umstadt Spuren der Menschen aus der Steinzeit fanden. So wurde vor Jahren von Holzhauern beim Fällen eines Baumes im Forst ein Steinbeil gefunden. Für die Besiedlung in der Römerzeit sind die Zeugen viel zahlreicher. So fand man bei der Ausbesserung der Hochstraße im Forst eine römische Vase, die aber leider in Stücke ging. Bei den Drainagearbeiten wurden 1926 in der Nähe des Waldes die Eisenreste eines römischen und Pfluges gefunden. Bei ähnlichem Arbeiten wurden 1928 im Höhnes Teile einer Römerstraße freigelegt. Am Weg, der von Altheim nach Groß-Umstadt führt, liegen im Wald mehrere Hügel, die gewöhnlich Römergräber genannt werden, wahrscheinlich aber Begräbnisstätten unserer germanischen Vorfahren sind.

Durch die Gemarkung führten zwei römische Heerstraßen; die schon genannte Hochstraße von Dieburg in der Richtung Aschaffenburg im nördlichen Teil und die zweite im südlichen Teil, die von Dieburg durch das Höhnes nach dem Otzberg und Hummetroth führte. Auch manche Gewannamen weisen auf Besiedlung in sehr früher Zeit hin, zum Beispiel "Im Judenbusch und Judensee". Mit dem jüdischen Volk haben diese Namen nichts zu tun; sie erinnern vielmehr an die Zeit, als unserer Vorfahren noch Heiden waren und an der Quelle Jutta oder Freija, die segensspendende Erdgöttin, die Gemahlin Wotans verehrten.

Nach dem die Römer um 300 nach Christi Geburt vertrieben waren, drangen in unserer Gegend, von Norden kommend, die Franken ein und drückten die Allamannen in den Odenwald zurück. Sie fanden dort fruchtbaren Boden und gutes Weideland, zwei Hauptfaktoren für den germanischen Bauern.

In dieser Zeit, wohl als die Karolinger regierten, ist sicher auch der Name für unser Dorf entstanden. Eine karolingische Urkunde nennt es Sieminaha, nach der Lage an dem durchfließenden Bach. Die Geschicke des Dorfes sind eng verknüpft mit denen der Stadt Groß-Umstadt. Mit anderen Dörfern gehörte es zur Cent Groß-Umstadt und wurde von dort aus verwaltet. 1255 belehnt der Abt Heinrich von Fulda den Grafen Diether von Katzenellenbogen mit 20 Mark, einen Wald bei Umstadt - genannt der Forst - und der ehemals münzenbergischen Hälfte von Groß-Umstadt, 1267 wurden diese Grafen wieder aus Umstadt verdrängt und behielten nur noch das Grävengericht zu Semd, sowie einen Hof zu Umstadt. Die Abtei Fulda verkaufte oder verpfändete, da sie später in eine schwierige Lage geraten war, einen Teil der Vogtei Umstadt an die Pfalz. Da letztere aber die Pfandsumme nicht zahlte, ging Umstadt an die Grafen von Hanau über und blieb dort bis 1427.

Unser Dorf bestand damals in der Hauptsache aus einer Anzahl von Höfen, die aber auswärtigen Herren oder der Kirche gehörten, so dass die damaligen Bewohner wohl wenig Eigentum besessen hatten. So werden damals genannt: der Hans Lipperts- oder Teufelshof, der Adam Metzgerhof, sowie die Ober- und Forstmühle, die hessische Erbleihgüter waren. Auch die Pfalz besaß Güter und hatte sie dem Amt Otzberg zugeteilt. Eine andere ältere Urkunde berichtet 1482 von einer Stiftung des Semder Bürgers Konrad Lotz.

Die Kriege des 16. Jahrhunderts brachten auch unserem Dorf viele Drangsale wie nachstehende Urkunde in kurzer Schilderung angibt:
„Anno Domini 1504 uff den 27ten Tag, das war zu der tzyt Montag nach pinsten, do hat der Landgrave Wilhelm uß Marpurg mit Heereskraft an den Ryn getzogin uwer den Pfalzgraven Herrn Philips unde uff freytag darnach durch Frankfurth getzogin nach Omstad und sint alle Dorffeschaften unde wegen denne von Ißenburg und Hanaw zu Babinhausen und auch der Pfalz zustendig geplündert unde zu Grunde abgebrannt. Uff Dinstag nach Trinitatis ist der Landgrave vor Omestad im Udinwalde getzogin unde hat die stad gewonnen unde keynen schaden genommen, denn allayn Reynhard von Bomelberg ist herschossen. Darnach hat er eyn schloß gewunnen, genannt Hautzheim, ist Graven Ludwigs von Löwenstein gewest und alle Dörfer darumb unde den flecken Otzberg alle abbrennen lassen. Uff sonntag nach Corp. Chr., das war der IXte Tag Juni, da hat der Landgrave getzogin nach Bickenbach unde unterwegen alle Dörfer abbrennen lassen etc.“

In dieser Fehde ist sicher auch das Dorf Steinhausen verschwunden, das westlich der heutigen Straße nach Richen zu lag. In der Gewann "Am Feldborn" wurde beim Pflügen noch Mauerwerk gefunden, sicher Reste des genanntes Dorfes. 1518 zog neues Leid über unserer Gegend: Franz von Sickingen belagerte, von Darmstadt kommend die Stadt Umstadt, erstürmte sie und nahm ihr Geschütz mit. Die Dörfer, die zu Hessen gehörten, also auch Semd, wurden hart bedrückt.

Bis zum 30-jährigen Krieg hatten Hessen und die Pfalz die Verwaltung von Semd gemeinsam geführt. 1621 zog sich der Krieg in unsere Gegend. Die katholischen Truppen unter Tilly standen bei Mosbach und Radheim, die Unionstruppen unter Mansfeld bei Dieburg. Die Stadt war von ihnen besetzt. Beide Heere plünderten und hausten ganz schrecklich. Nach dem Tilly 1622 bei Höchst Sieger geblieben war, belagerte er den Otzberg, dessen Besatzung nach heldenmütiger Verteidigung freien Abzug erhielt. Die Dörfer der Umgegend mussten die Truppe unterhalten und alles liefern. Nach dem Friedrich V. besiegt und geflohen war, erhielt der Landgraf von Hessen, Ludwig der Getreue, 1623 auch die pfälzische Hälfte von Umstadt mit der Feste Otzberg, wozu auch der ehemals pfälzische Teil von Semd gehörte.

1634 und 1635 spielte sich der Kampf wieder in unserer Gegend ab. Diesmal waren es zuerst die Kroaten, die Umstadt besetzten und von da aus ihre Raub- und Beutezüge in die Umgegend unternahmen. Sie verschonten weder Tier noch Mensch. Freitags und samstags vor Pfingsten 1635 überfielen sie von Umstadt aus Reinheim. Die beiden Städte klagen über die große Not der damaligen Zeit, und man kann sich daran wohl ausmalen, wie es in dem ungeschützten Dorf ausgesehen haben mag. Am 9. September zogen Schweden durch die Zent Umstadt. Sie unterschieden sich in der Behandlung der Bewohner durchaus nicht von ihren Gegnern. Am 22. und 23. September kamen gar die Spanier, die aber bei einem Angriff auf Reinheim zurückgeschlagen wurden. Auf ihrem Rückzug nach Umstadt nahmen sie in Habitzheim und Semd alles Rindvieh mit. Drei Wochen später marschierte der schwedische Oberst Roß von Umstadt über Semd nach Dieburg. So wechselten die Scharen: wohl waren es verschiedene Parteien, aber für die Bewohner waren sie alle schwere Bedrücker.

Schrecklicher aber als die Soldatenhorden des 30-jährigen Krieges hauste bei uns die Pest. In der ersten Hälfte des Krieges waren viele Bewohner vor den Soldaten von Semd nach Umstadt geflohen. Die zurückgebliebenen fielen der Seuche zum Opfer. Die Höfe zerfielen, die Äcker bedeckten sich mit Unkraut und Gestrüpp. Als endlich der Friede kam, war das Dorf ein wüster Schutthaufen.

Am Ende des Dorfes stand noch ein halbzerfallenes Haus, das dem früheren „Gemeindemann“ Vogel gehört hatte. Er selbst war nicht mehr da. Aus dem zusammengebrochenen Herd war ein kräftiger Strauch gewachsen, und in ihm hatte sich ein Turteltaubenpaar sein Nest gebaut. Das trauliche Heim sahen zwei übriggebliebene Männer Menges und Mohrhard. Auch sie bekamen Sehnsucht nach einer Heimat und beschlossen, sich wieder in Semd anzubauen. Andere, die nach Umstadt geflohen waren, kamen zurück; und so entstand, wie man damals sagte, ein großes Dorf, obwohl es kurz vor dem Krieg nur 292 Einwohner zählte und zwar 58 Männer, 60 Ehefrauen und Witwen, 88 Söhne und 86 Töchter. Die Lage der Zurückgekehrten war traurig und man erzählte zum Trost gern von der guten, alten Zeit „da war Semd besser; damals waren die Leute so reich, dass sie ihren Pferden silberne Hufeisen auflegten und ihre Äcker mit silbernen Pflügen bauten.“

In der Zent Umstadt war die Gerichtsverfassung dieselbe wie im größeren Teil Deutschlands, besonders am Rhein. Als höchste Instanz besteht ein allgemeines Gericht, welches unter dem Namen Land- oder Zentgericht den ganzen Bezirk Umstadt umfasste. Ihm waren die Dorf- und Vogteigerichte untergeordnet. Der oberste Richter war der Stadtschultheiß in Umstadt, der um 1470 von der Pfalz allein bestellt wird. Er hegte mit seinen weißen Schöffen aus dem Stadt- und den Dorfgerichten der ganzen Zent - jährlich zweimal unter der Linde auf dem Kirchhofe neben dem Markte und der Pfarrkirche das große Landgericht. Dabei haben alle Dienstpflichtigen der ganzen Zent zu erscheinen. Es war die Berufungsstelle für die Dorfgerichte Semd, Richen, Klein-Umstadt und Lengfeld. – Für Umstadt bestand unter denselben Richtern und Schöffen neben dem Zentgericht noch der Oberhof.

Für die täglichen Vorkommnisse befanden sich in den Orten Dorf-, Unter- und Halbgerichte. – Semd besaß ein Ortsgericht. Es führte das Umstädter Stadtsiegel, wurde auch Dorfgericht oder Untergericht genannt und tagte seit 1614 jährlich zweimal unter dem Vorsitz des Amtskellers von Umstadt. Das zweite Gericht war das Hubgericht – von Hube oder Hof. Es erstreckte sich auf schwere Feldfrevel und konnte eine Strafe bis zu 3 Pfund Heller verhängen. Die eine Hälfte davon erhielten die Schützen, während die andere Hälfte vom Gericht vertrunken wurde. Von 1633 bis 1651 wurde das Gericht nicht mehr gehalten, weil zu wenig Leute da waren. 1759 wurde es aufgehoben.

Daneben hatte Semd noch das Grävengericht. Es stammt aus der Zeit, da die Grafen von Katzenellenbogen im Bezirk Umstadt mitberechtigt waren. Sie behielten damals nur noch in Semd etwa 500 Morgen Land, die Grävenäcker, und verschiedene Zinshäuser. Sie bestellten dafür einen Grävenschultheiß mit Schöffen, die über die Gerechtsame der Hubengüter zu wachen hatten. Die Bezeichnung „Gräve“ kommt wohl von Graf, doch kann der Ausdruck „Grävengericht“ nicht Grafengericht bedeuten. Es wurde vielmehr im Mittelalter oft den Ortsschultheißen gegeben. Dieses Grävengericht bestand übrigens noch im 18. Jahrhundert und gehörte damals mit einigen Gefällen zum Amt Lichtenberg. Umstadt war die älteste Pfarrei des fuldischen Gebiets und hatte als Filiale Semd, Kleestadt, Richen, Raibach, Klein-Umstadt und Zimmern. Daneben bestand im Forst nördlich von Semd eine Kapelle „Die Waldkapelle“. Semd hatte vor dem 30-jährigen Krieg eine Kirche. Sei teilte das Schicksal des Dorfes und wurde im Krieg zerstört. Nachher wurde ein Kirchlein wieder aufgebaut. Dabei wurde auch ein steinernes Kreuz, das bei Klein-Zimmern gefunden worden war, eingemauert. Es ist heute noch links vom Turmeingang zu sehen.

Diese kleine Kirche bestand 1792. Semd war Filiale von Groß-Umstadt und zwar schon vor der Reformation. Damals war der Kaplan von Umstadt gehalten, jeden Sonntag Gottesdienst in der Kapelle in Semd zu halten. Philipp der Großmütige führte auch hier 1523 die Reformation ein. Durch gemeinsame Verwaltung mit der Pfalz entstand neben der lutherischen auch eine reformierte Kirchengemeinde. Die kleine Kirche scheint für die wachsende Gemeinde etwas klein und schließlich baufällig geworden zu sein, sodass eine Ausbesserung unbedingt nötig wurde. Hierzu fehlten wohl die Mittel, weshalb die Superindentur Darmstadt 1784 der Gemeinde einen Betrag von 86 Gulden für die Ausbesserung der Kirche gab. Der Plan wurde aber nicht ausgeführt, sondern 1792 die jetzige Kirche gebaut, die in ihrer Ausdehnung der Größe der Gemeinde entsprach. Semd hatte Mitte des vorigen Jahrhunderts seine größte Einwohnerzahl. Es zählte 1858 zusammen 1317 Einwohner mit 297 Familien. Darunter waren 465 Kinder unter 14 Jahren und 852 Erwachsene.

Betrachtungen über die wirtschaftliche Entwicklung, über das Erziehungswesen usw. können hier nicht angestellt werden. Nur will ich noch kurz auf die großen Weltgeschehnisse und ihre Wirkung in unserer Gemeinde hinweisen. In den Kriegen gegen Friedrich den Großen war Hessen ein Durchmarschgebiet, und unsere Bauern waren besonders mit Lieferungen und Vorspanndiensten geplagt. Einige mussten den französischen Truppen wochenlang mit dem Fuhrwerk folgen. Tiefer griffen aber schon die Napoleonischen Kriege in das Gemeindeleben ein. Wieviele aus unserer Gemeinde teilnehmen mussten, lässt sich nicht mehr feststellen, aber nach einer Abrechnung aus 1838 hatten noch 8 Löhnungen aus dem russischen Feldzug zu bekommen.

Am Einigungskampf 1870/71 nehmen aus Semd 72 Krieger teil, von denen noch 2 am Leben sind.

Im Weltkrieg verlor die Gemeinde 34 ihrer Gemeindeglieder. Sie besiegelten die Treue zur Heimat mit ihrem Leben.

Semd, im Mai 1928 - Bräunig, Lehrer


Der vorstehende Text sowie die Grafik wurde der Festschrift anläßlich des 60-jährigen Jubiläums des Männergesangvereins Sängerlust Semd von 1928 entnommen.
Karlheinz Müller